Debates Digital
Text & Talks
Eine Serie von digital publizierten Essays und Debatten mit einigen der an den vergangenen Debatten beteiligten Schriftstellerinnen und „public intellectuals“.
Talks
Seit Mitte 2020 veröffentlichen wir in unserem digitalen Format Debates Digital: Text and Talks Essays und Gespräche, in denen wir gesellschaftliche Umbrüche und politische Veränderungen diskutieren und abwägen.
Die aktuelle Situation macht die Themen und Fragen, die von Anbeginn an im Zentrum der „Debates on Europe“ standen, wichtiger und dringlicher denn je. Debates Digital bietet Einblicke in einige Regionen Europas, die sonst in der internationalen Medienaufmerksamkeit eher unterbelichtet bleiben, von Minsk und Moskau im Osten bis Belfast im Westen. Innenansichten der sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen werden dabei ebenso zu finden sein wie Analysen der unmittelbaren und längerfristigen Folgen gesellschaftlicher Umbrüche.
Die Essays in dieser Reihe werden hier auf der Website auf Englisch und Deutsch veröffentlicht, zudem finden Sie die Artikel in diesen Sprachen wie auch auf Französisch und Italienisch auf Voxeurop.
Artikel
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Kroatien: Das Virus, das Erdbeben und die Bioökonomie des Tourismus
Slavenka DrakulićIn Kroatien hat eine angeblich unabhängige Expertengruppe das Vorgehen angesichts der Corona-Pandemie bestimmt. Doch dieses Krisenmanagement war in Wahrheit zutiefst politisch, wie die Journalistin und Schriftstellerin Slavenka Draculić darlegt. Das stark vom Tourismus abhängige jüngste EU-Mitglied hat sich auf ein riskantes Spiel eingelassen, bei dem politische Macht und wirtschaftliche Erwägungen gegen das Leben von Menschen im besonders gefährdeten Teil der Bevölkerung stehen. Am Ende könnte es bei diesem Widerspruch um nicht weniger gehen als um die Zukunft der Demokratie.
Wir haben wohl alle schon den populären Covid-19-Slogan gesehen, der da lautet: “Lässt sich 2020 nicht auf Reset stellen? Es hat ein Virus!“, oder eine ähnliche Formulierung. Kroatien würde in der Tat ein solches Reset dringend brauchen können. Das Land hat dieses Jahr nicht viel Glück gehabt, ein Desaster folgte dem anderen. Zuerst die enttäuschende Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, die Kroatien von Januar bis Juni innehatte. Dann schlug das Coronavirus zu. Und inmitten von alledem erschütterte ein großes Erdbeben die Hauptstadt Zagreb. Es folgte das riskante Spiel mit den früh angesetzten Parlamentswahlen. Und schließlich das dringliche Problem des (einbrechenden) Tourismus.
Die kroatische Ratspräsidentschaft war eine große Herausforderung; es ging um historische
Aufgaben wie die Bewältigung des Brexit und die Migrationskrise an den südöstlichen Grenzen der Union. Doch Kroatiens hochgespannte Erwartungen, man könne effektive Lösungen erarbeiten, und die Illusion von Macht und Bedeutung endeten im Juni ohne irgendein substantielles Ergebnis. Es wäre naheliegend, die Pandemie für das dürftige Resultat verantwortlich zu machen, aber die Kritiker haben darauf hingewiesen, dass Kroatien von Anfang an eine fragwürdige Haltung einnahm. Anstatt eine führende Rolle in der Region zu übernehmen und Serbien, Montenegro, Albanien und Nordmazedonien bei ihren Problemen zu unterstützen und ihre Verhandlungen mit der EU voranzutreiben, wollte die Regierung auf Augenhöhe mit den großen europäischen Mächten agieren. Die kroatische Präsidentschaft hat aber die Politik der EU in keiner Weise geprägt.
Als die Regierung am 11. März die Pandemie ausrief, stellte sich dies als der Beginn einer Übung in der Rückkehr zum Polizeistaat heraus. Es wurde zur Festlegung der notwendigen Maßnahmen gegen das Virus eine Expertengruppe von angeblich politisch nicht gebundenen Wissenschaftlern und Verwaltungsexperten aus Gesundheitsinstitutionen gebildet, zu denen kurioserweise der Innenminister von der Regierungspartei HDZ gehörte. Diese Gruppe ordnete am Parlament vorbei einen Lockdown an und entschied über alle anderen relevanten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie, von der Schließung von Schulen und der Einstellung von Straßenbahnlinien zur Isolation von Gruppen und Individuen und der Verordnung zum Tragen von Masken in Ladengeschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln.
Interessanterweise gehorchten die Bürger den neuen Regeln ohne Protest, trotz deren fragwürdiger Legitimität und antidemokratischem Charakter. Nicht einmal die Opposition opponierte. Einerseits vereinte die Angst vor dem Virus alle. Andererseits war dieser erstaunliche Gehorsam aber auch durch Kroatiens autoritäre Vergangenheit als Teil Jugoslawiens schon vorbereitet. In einer Krise schließen die Menschen sich nicht nur zusammen, sie verlassen sich auch auf die Art politischer Führung, die sie kennen und die sie gewohnt sind.
Dies lässt sich vielleicht am besten an der habituellen Bereitschaft zeigen, die Verantwortung für Entscheidungen an eine höhere Autorität zu delegieren (einstmals die kommunistische Partei), weil diese es „besser weiß“. Es ist, als hindere dieses Erbe des kommunistischen Systems die Bürger immer noch daran, an ihre eigenen Rechte zu glauben oder auch nur irgendwelche Entscheidungen zu hinterfragen. Die Erfahrung der Demokratie war im postkommunistischen Kroatien nur eine neue Form der alten Praxis eines von einer einzigen Partei dominierten Regierungssystems. Es dauerte nicht lange, bis die Menschen in den nach dem Zerfall Jugoslawiens gebildeten neuen Staaten begriffen, dass die Parteimitgliedschaft immer noch der schnellste Weg zu Macht und Geld ist.
Nicht einmal das Erdbeben in Zagreb am 22. März – mit 5,5 auf der Richterskala das stärkste seit dem Jahre 1880 – konnte die Kroaten so weit aufrütteln, dass sie aus ihrem Corona- Schlummer erwacht wären. Etwa 25 000 Gebäude wurden beschädigt, etwa 2000 davon mussten evakuiert werden. Viele Schulen, Krankenhäuser, Museen und andere kulturelle Institutionen waren betroffen; es gab Verletzte. Das Stadtzentrum mit der historischen Altstadt war am stärksten betroffen. Der Naturkatastrophe folgten große Konfusion und verschiedene
Skandale bei der Finanzierung des Wiederaufbaus, wo gravierende Manipulationen enthüllt wurden und sogar Verdacht auf Unterschlagungen durch die Stadtverwaltung entstand. Doch trat all dies in den langen Schatten, den die Nachrichten über das allesbeherrschende Coronavirus warfen.
Die Bürger akzeptierten zunächst das sogenannte Expertengremium in dem Glauben, dass es dessen Aufgabe sei, Leben zu retten, aber bald begriffen sie, dass die Arbeit dieses Gremiums einen stark politischen Aspekt hatte. Es stellte sich heraus, dass diese Gruppe als verlängerter Arm der Regierungspartei HDZ agierte. Die Angst und die gelungene Kontrolle der Pandemie (das heißt: eine vergleichsweise geringe Zahl an Erkrankten und Toten) wurden die wichtigsten Bausteine bei der Herbeiführung früher Parlamentswahlen. Die regierende Partei wollte rasch von dem Virus profitieren, indem sie sich den Ruf der Experten und die Ergebnisse des ersten Lockdown zugutehielt. Man war sich durchaus im Klaren darüber, dass der Lockdown sich nicht langfristig aufrechterhalten ließe (nicht zuletzt wegen des Beginns der Touristensaison), und legte die Wahlen dementsprechend auf den 5. Juli. Premierminister Andrej Plenkoviċ beschlosss, sich jenen idealen Augenblick zunutze zu machen, der nach dem Ausbruch der Pandemie und vor der Ankunft der Touristen lag. Dieses Zeitfenster war zweifellos teilweise dadurch motiviert, dass man befürchten musste, Touristen würden das Virus verbreiten, wenn die Grenzen einmal offen waren.
Doch war Plenkoviċs zweite und noch größere Befürchtung wohl eine andere, nämlich die, dass der Tourismus, mit etwa zwanzig Prozent des Bruttosozialprodukts das profitabelste
„Erzeugnis“ des Landes, zusammenbrechen könnte. In diesem Herbst mag Kroatien vor seiner größten wirtschaftlichen Krise stehen – ganz offensichtlich kein guter Zeitpunkt für Wahlen. Das Kalkül, die Wirtschaft zu retten, indem man die Grenzen öffnet und die wegen des Virus erlassenen Restriktionen möglichst lockert, um denkbar viele Touristen anzuziehen, ist riskant. Mein Kollege Viktor Ivančiċ von der früheren Wochenzeitschrift Feral Tribunebeschreibt dies als Beispiel einer Politik der „nachhaltigen Bioökonomie“, wie die kroatische Regierung sie praktiziert. Seiner satirischen Definition zufolge beruht diese „nachhaltige Bioökonomie“ auf der Voraussetzung, „dass es verantwortlich und vernünftig ist, den Tod einer Gruppe von Menschen durch Covid-19 zuzulassen, wenn dies verhindert, dass der Rest der Bevölkerung verhungert“. Falls Sie dies für einen speziell kroatischen Gedankengang halten, denken Sie an den ähnlichen Ansatz in Schweden, wo das Wohlergehen der Mehrheit gegen das Leiden der am stärksten Gefährdeten aufgewogen wird. Andere Länder mit beliebten Touristenzielen
– Spanien, Griechenland, Italien – tun genau dasselbe: Die Strategie, den Staatshaushalt zu retten, indem man die Restriktionen lockert, um Touristen ins Land zu bekommen, beruht darauf, dass man den Tod einer gewissen Anzahl von Menschen in Kauf nimmt. Nur muss noch irgendjemand präzise fixieren, wie viele Todesfälle in dieser morbiden Gleichung akzeptabel sind.
Die Rechnung mit dem frühen Wahltermin ging auf, obwohl der Wahltag schließlich mit der Feststellung einer erhöhten Zahl von Infektionen zusammenfiel. Der Premierminister und seine Partei siegten. Diesmal herrscht der allgemeine Eindruck, dass der neue und alte Premier seine HDZ Richtung Mitte steuert, fort von der radikalen Rechten, die in der Vergangenheit
dominant war. Das Glück Plenkoviċs und der HDZ war es, dass Kroatien ein kleines und nicht besonders wichtiges Land ist, das am Rand der EU lebt und stirbt, während die großen Länder kaum wahrnehmen, was an der Peripherie geschieht…
Wie dem auch sei, die neue Regierung wird jetzt viele reale Probleme in Angriff nehmen müssen, von der Arbeitslosigkeit über juristische und wirtschaftliche Reformen bis zu der wachsenden Zahl von Flüchtlingen und Migranten, die an die Grenze Kroatiens zu Bosnien und Herzegowina drängen. Und obwohl Kroatien einer der großen Gewinner bei der Aufteilung des im Juli in der EU ausgehandelten Paket von Unterstützungsmaßnahmen ist, wird man diesen Problemen doch mit einem recht schmalen Budget gegenüberstehen.
Das Virus verändert nicht nur unsere persönlichen und sozialen Gewohnheiten, sondern auch unsere wirtschaftliche Lage. Und es ändert unser politisches Verhalten. Diese Veränderungen werden über die nahe Zukunft entscheiden, nicht nur in Kroatien, sondern in der EU insgesamt. Die Pandemie hat gezeigt, wie fragil unsere Existenz ist, wie bedroht unser Leben und unsere Lebensart sind. Angesichts einer größeren Katastrophe sehen wir, dass die Institutionen, die wir zu unserem Schutz errichtet haben, auseinanderbrechen können. Unsere Angst um unser Leben droht, die bereits zerbrechlichen Grundlagen unserer Demokratie zu untergraben.
ÜbersetzungausdemEnglischenvonJoachimKalka
© Debates on Europe Publiziert am 6. August 2020
Dieser Artikel liegt bei Voxeurop auf Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch vor.
Slavenka Drakulić ist eine kroatische Journalistin, Romanautorin und Essayistin, deren Werke zum Feminismus, Kommunismus und Postkommunismus in viele Sprachen übersetzt wurden. 2004 erhielt sie den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung. Ihr neues Buch Café Europa Revisited. How to Survive Post-Communism wird im Frühjahr 2021 bei Penguin erscheinen.
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In politischer Selbstisolation
Sergei LebedevDie Menschen in Russland leben seit vielen Jahren in einem System politischer Selbstisolation, schreibt Sergej Lebedew. Er zeigt, wie der Coronavirus den vollständigen Mangel an Vertrauen in der heutigen russischen Gesellschaft mit den Verbrechen der sowjetischen Geschichte verknüpft. Und er fragt, ob die Covid-19-Krise Auswirkungen auf das Ansehen und die Umfragewerte Putins haben wird?
Als in Russland die ersten Covid-19-Erkrankungen bekannt wurden und sich das Virus ausbreitete, arbeitete ich gerade im Zentralarchiv des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation (FSB). Dort, wo Dokumente über Unterdrückte, Verhaftete, Hingerichtete der Stalinzeit lagern.
Jeden Morgen kam ich zu dem unauffälligen Gebäude unweit der Lubjanka auf der Straße Kusnezki Most und bekam zerfledderte Pappmappen ausgehändigt: Die Archiv- und Ermittlungsakten meiner Verwandten und von Freunden der Familie.
Es war, als existierte ich in zwei Epochen.
In einer, der Gegenwart, gab es Nachrichten aus aller Welt über Quarantänen, geschlossene Grenzen, über neue Verhaltensregeln: Versammlungsverbot, Masken, soziale Distanz; mit anderen Worten – das Unterbinden oder Minimieren von Kontakten.
In der anderen, der Vergangenheit, entdeckte ich beim Lesen der Akten etwas, das auf eine seltsame und unheimliche Weise ähnlich war.
Als ausgewiesener Volksfeind war man damals augenblicklich infektiös. Familie, Freunde und Kollegen gehörten sofort zur Risikogruppe. Anhand der Papiere über Verhöre und Haftbefehle konnte ich sehen, wie dieses Stigma, ein tödliches Stigma, übertragen wurde – vom Bruder auf den Bruder, vom Vater auf die Kinder, zwischen Mitgliedern eines Philatelistenkreises, zwischen Geistlichen einer Kleinstadt.
Das Virus, oder besser gesagt, der Stand der „Durchseuchung“, war zur eindeutigen physiologischen Metapher für politische Repressionen und ihre generationenübergreifenden Folgen geworden: der Aushöhlung und Verarmung des Lebens, der Zerstörung von Formen sozialer, menschlicher Solidarität, der sich einstellenden Gewohnheit, jeden neuen Kontakt mit Vorsicht zu betrachten und jeden Menschen als potenziell ansteckend.
Ich denke, dieses Phänomen hatte (und hat) in Russland eine paradoxe Ausformung: als unausgesprochener, fatalistischer Konsens darüber, dass das Leben nicht unantastbar ist, dass man sich vor der Geschichte und dem Staat nicht zurückziehen, nicht verstecken und ihnen keinen Widerstand leisten kann, dass man sie gezwungenermaßen als Naturkatastrophe betrachten muss, die zu einem alltäglichen Zustand geworden ist – genau so wie die Epidemie.
Mit einer solchen Anamnese traf die russische Gesellschaft auf das neue Coronavirus.
Das Vorgehen des Staats war und bleibt vorhersehbar.
Am zweiundzwanzigsten April war eine „Volksabstimmung“ über Verfassungsänderungen geplant , die Wladimir Putin ermöglichen sollte, noch zweimal den Posten des Präsidenten einzunehmen (nach der aktuellen Fassung ist die derzeitige Amtszeit Putins seine letzte). Darüber hinaus beinhalten die Änderungen einen weiteren autoritären und konservativen Schwenk in der russischen Politik: so soll gemäß eines Änderungsantrags die Familie ausschließlich als „Vereinigung von Mann und Frau“ definiert werden.
Zunächst wurde davon ausgegangen, die Volksabstimmung und die im Kalender folgende Siegesparade vom 9. Mai, das wichtigste Propagandaereignis des Jahres, könnten stattfinden. Die Behörden verbreiteten unablässig die Behauptung , Covid-19 werde Russland nicht erreichen, es sei nicht so gefährlich. Eine der kursierenden Versionen erklärte, dass diejenigen, die in der UdSSR geboren und in ihrer Kindheit obligatorisch gegen Tuberkulose geimpft worden waren, nicht an Covid-19 erkranken könnten, dass also die sowjetische Vergangenheit sie buchstäblich vor der russischen Gegenwart schütze.
Kaum hatten die Infektionszahlen jedoch alarmierende Werte erreicht (wobei in Russland medizinische Statistiken wie auch alle anderen manipuliert werden), wurde die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen: strengste Quarantäne, digitale Passierscheine, Apps für Smartphones, die die Bewegungen verfolgen. Diese Maßnahmen mögen vernünftig oder teilweise vernünftig sein, aber wenn sie von einem autoritären Staat durchgesetzt werden, für den die Bürger keine potenziell Erkrankten, sondern potenziell Verdächtige sind, wenn Disziplin und nicht die Gesundheit im Vordergrund steht, ergibt sich ein überwältigender Effekt. Vermutlich hat sich das Virus in Moskau zu keinem Zeitpunkt rasanter ausgebreitet als an jenem Tag, als die ersten elektronischen Passierscheine eingeführt wurden und sich riesige Schlangen vor den Metro- Eingängen bildeten: Die Polizei war angewiesen worden, jeden von ihnen zu überprüfen.
Bemerkenswerterweise zeigte das Verhalten der Menschen in dieser Situation mehrere kritische Defizite, die
komplex miteinander verbunden und stark widersprüchlich sind. Sie sind es eigentlich, die das Regime von Wladimir Putin ermöglichen.
Das erste ist ein Vertrauensdefizit; ja, auch gegenüber den Behörden, in erster Linie jedoch gegenüber den Mitbürgern: Hier rette sich, wer kann.
Gleichzeitig existiert ein Defizit der Anerkennung des anderen, der Anerkennung von Grenzen; ein Defizit an Respekt, der sich aus der Wertschätzung für das Leben des anderen ergibt: Es ist kein Zufall, dass die Quarantäne in Russland im Allgemeinen nicht als bereitwillige Aktion verantwortungsbewusster Bürger wahrgenommen wird, sondern als rein staatliche Maßnahme, die befolgt werden muss.
Am Kreuzungspunkt der beiden ersten Defizite ergibt sich ein drittes: das Defizit an bürgerlichem Verantwortungsbewusstsein.
Quarantäne und Social distance zeigen nur, dass wir tatsächlich schon lange in einem Zustand politischer Selbstisolation leben. Das ist unsere Realität, nur wurde sie jetzt metaphorisch wie auch physisch wahrnehmbar.
Leere Straßen und Politikverdrossenheit – so haben wir schon lange vor Covid-19 gelebt.
Viele in Russland sagen jetzt, die Covid-19-Epidemie werde Putins Ansehen und seinen Umfragewerten schaden. Doch dabei sollte bedacht werden, dass Putin weiß, wie er aus taktisch schrecklichen, hoffnungslosen Situationen strategische Vorteile ziehen kann. Die Geiselnahme in einer Schule in Beslan 2004, die zu einer Erstürmung des Gebäudes führte, bei der Hunderte von Kindern getötet wurden, hätte das Ende seiner Karriere bedeuten können. Stattdessen, unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus und der Stärkung staatlicher Macht, wurden die Gouverneurswahlen abgeschafft. Ich denke, wir werden noch erleben, wie die Epidemie und ihre verheerenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung und die Wirtschaft ausgenutzt werden, um eine weitere Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten zu rechtfertigen.
Übersetzung aus dem Russischen von Franziska Zwerg
© Debates on Europe Publiziert am 18. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Sergei Lebedevist ein russischer Autor, dessen Bücher in 17 Sprachen übersetzt wurden. Seit 2010 hat Lebedew fünf Romane geschrieben, die die verdrängte sowjetische Vergangenheit und die Auswirkungen der stalinistischen Repressionen auf die moderne russische Gesellschaft zum Thema haben.
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Das Quarantäne-Entzugssyndrom
Marius IvaškevičiusAls während der Corona-Krise die Menschen, die in den 1990er Jahren aus Litauen emigriert waren, heimkehrten, waren sie nicht willkommen. Wie alle Fremden wurden sie als Bedrohung wahrgenommen. Marius Ivaškevičius diagnostiziert an sich selbst eine gespaltene Corona- Persönlichkeit, die zwischen der Trauer über die verlorene Weltoffenheit und der Freude an der neuen zurückgezogenen Lebensweise hin und hergerissen ist.
Als ich im Frühjahr 2020 die erste (und hoffentlich einzige) weltweite Quarantäne im Leben durchmachte, kam ich plötzlich darauf, dass in mir zwei Menschen wohnen: zwei sehr unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche.
Den einen, der sich jetzt ins Abseits zurückgezogen hat, hat diese Pandemie und das von ihr verursachte Abgeschlossen-Sein von allen und allem fast als eine persönliche Tragödie getroffen. Er war der Apologet einer offenen Welt und gewohnt, zwei oder dreimal im Monat durch Europa und Russland zu fliegen (Premieren, Konferenzen, Vorträge), sowie zwei oder dreimal im Jahr nach New York zu seiner Tochter, die dort in die Schule geht. Er nahm mit Entsetzen wahr, wie in Europa längst vergessene Grenzen aus dem Boden schossen und die Europäische Union selbst und ihre Idee der Einheit aus unserem Bewusstsein entschwanden. Er fühlte sich verloren und niedergeschlagen, denn das war ein blitzartiger und absoluter Triumpf der „Bodenständigen“ der ganzen Welt gegen die „Offenen“.
Auf einmal wurde es üblich, Ausländer als Aussätzige anzusehen. Und sogar die eigenen Landsleute, die eilig mit den letzten möglichen Flugverbindungen heimkehrten. Danach
blieben nur die Fähren über die Ostsee, auf denen massenweise längst vergessene Emigranten zurückkamen. Dieselben, die das entvölkerte Litauen viele Jahre lang versucht hatte, zur Rückkehr zu bewegen. Und plötzlich kehrten sie zurück, wenig verändert seit den wilden 1990er Jahren, in denen sie von hier abgereist waren. Als die Heimat ihrer ansichtig wurde, erschrak sie und ließ wissen: Nein, solche Leute brauchen wir nicht. Man versuchte, sie zwangsweise in Hotels zu isolieren, wo sie das Mobiliar zerschlugen und sich volllaufen ließen. Da bezeichnete der Ministerpräsident sie als „Unmenschen“ und trug damit zum Sieg der „bodenständigen“ Mehrheit bei.
Als Dramatiker schrie ich schmerzlich auf, als ich die weltweite Schließung der Theater sah, darunter auch jene dreizehn, auf denen meine Stücke gespielt werden. Denn das bedeutet, dass ich in den kommenden Monaten oder gar Jahren meine Einkünfte verlieren werde. Als Vater nahm ich traurig den sich zunehmend leerenden Himmel wahr: Die Flüge nach Litauen wurden täglich weniger, bis nur mehr ein einziger übrigblieb: Vilnius–Minsk. Und damit musste ich auch die Hoffnung aufgeben, meine fünfzehnjährige Tochter aus New York zurückfliegen zu lassen. Aus New York, das immer mehr blutete, bis es schließlich zur Hauptstadt dieser Pandemie wurde – zum größten Gefahrenherd des Virus.
Das alles ging in den ersten Wochen der Quarantäne in mir vor. Oft ertappte ich mich dabei, wie ich den alten sowjetischen Weltatlas zur Hand nahm, der mir aus meiner Kindheit geblieben ist: All diese weit entfernten, in verschiedenen Farben gezeichneten Länder wurden für mich wieder unerreichbar und daher sogar etwas irreal.
Doch dann wurde plötzlich ein Schalter umgelegt. Jener weltoffene Mensch zog sich zurück und der bodenständige kam zum Vorschein. Er übernahm gleichsam das Steuer meines Bewusstseins und setzte mich auf ganz kurze Schienen: auf einen strengen, sich wöchentlich wiederholenden Rhythmus: Von Montag bis Freitag die schwere (doch angenehme) Arbeit des Romanschreibens im Dorf und an den Wochenenden die Ausflüge in das sich leerende Vilnius. Und das war keine Apathie, sondern eine sehr konzentrierte Zeit. Ich begann die Leere richtiggehend zu genießen, so dass ich die Gesellschaft anderer Menschen nicht mehr vermisste und keinerlei Wunsch verspürte, mit irgendjemandem (außer mit den nächsten Angehörigen) zu kommunizieren. Eines Morgens erinnerte ich mich plötzlich, dass ich an diesem Tag aus Tallinn (wo am Abend davor eine Premiere angesetzt war) nach Baku hätte fliegen sollen, um am Tag darauf eine Werkstatt für dortige Dramatiker abzuhalten. Anders gesagt, mich den ganzen Tag über in Flugzeugen durchrütteln lassen, mit einem Zwischenstopp in Istanbul. Schon der Gedanke daran ließ mich schaudern. Ich konnte nicht mehr begreifen, wie ich früher daran Gefallen gefunden hatte. Jenes weltoffene Ich hatte sich bereits Lichtjahre von mir entfernt.
Ich glaube, ich hatte einfach Glück: Die Quarantäne hat mich in einem Augenblick meines Lebens erwischt, in dem ich in völliger Harmonie mit mir selbst war: glücklich mit dem, was ich bin, mit wem ich bin und was ich mache. Anders als diejenigen, für die der Gang zur Arbeit oder die unterschiedlichen Formen der Teilnahme am sozialen Leben eine Flucht aus der kleinen Hölle ihrer Beziehungen darstellt. Tatsächlich, ich empfand es als eine erfüllte Situation in der ich die Einschränkungen mit der restlichen abgeschlossenen Welt teilte. Mit meiner Tochter,
die in einer kleinen Wohnung in Brooklyn eingesperrt war, kommunizierte ich mehr und tiefer als je zuvor im Leben. Mein physischer Zustand besserte sich augenscheinlich: Alle möglichen Reflux-Symptome und Verdauungsstörungen verschwanden, die ich früher offenbar durch einen ständigen, wenn auch nicht spürbaren, Reise-Mikrostress und den Übergang von einer Küche zur anderen provoziert hatte.
Und sogar als die Quarantäne immer strenger wurde und in Litauen Stimmen mit der Aufforderung zu vernehmen waren, quasi den Kriegszustand zu erklären und alle Kontrolle an den Armeekommandanten zu übertragen, drängte es mich nicht, dagegen zu protestieren, obwohl jenes frühere Ich bereits alle Alarmglocken schrillen gehört hätte. Nein, ich dachte nur: Macht, was ihr wollt, wenn es nur mein kleines Quarantäne-Paradies nicht zerstört, das sich über einen Umkreis von fünfzig Kilometern erstreckt.
Und so hat mein bodenständiges Ich die beginnenden Erleichterungen der Quarantäne als richtige Tragödie und totalen Zusammenbruch aufgenommen. Alles hat mich entnervt: die in die Straßen von Vilnius strömenden Menschenmassen, die so sehr auf soziale Kontakte aus waren, sowie diverse Einladungen zu verschiedenen Veranstaltungen, die man aus Höflichkeit, manchmal auch wegen einer Verpflichtung nicht abweisen kann. Das Fundament meines neuen Lebens glitt mir unter den Füßen weg und ich suchte verzweifelt nach einem Strohhalm: Wie könnte ich mich noch ein wenig auf meinem kurzen bodenständigen Geleise halten.
Gerettet hat mich meine Tochter. Die Wiederbelebung des Flugverkehrs ermöglichte es endlich, einen Flug New York–Frankfurt–Vilnius für sie zu buchen, und danach konnte ich schon allen Einladenden ruhigen Gewissens antworten: Entschuldigen Sie, aber meine Tochter kommt aus New York zurück und ich werde gezwungen sein, mich zusammen mit ihr noch für zwei Wochen in die Isolation zu begeben.
Unruhig überprüfte ich die sich ständig vergrößernde Liste der Länder, aus denen man sich nach der Rückkehr nicht mehr in Quarantäne begeben musste – und wenn die USA darunterfielen, wäre mein Traum zerplatzt.
Als die Tochter in Vilnius landete, wartete ich vor dem Flughafen eineinhalb Stunden auf sie (sie im Flughafen abzuholen, war nicht erlaubt). Ich beobachtete, wie die anderen ankommenden Passagiere, kaum waren sie beim Tor herausgekommen, sich die Masken herunterrissen, als wären sie in eine lange erträumte Freiheit entkommen. Doch ich stand da und wartete auf meine Tochter, die mir noch zwei Wochen der so sehr ersehnten Unfreiheit gewähren würde.
Endlich tauchte auch sie auf, als allerletzte, mit ihren zwei großen Koffern. Ich schloss sie in meine Arme und küsste sie ab, damit wir blitzschnell alle möglichen Viren und Bakterien austauschten. Dann führte ich sie schnell zum Auto.
Ohne irgendwo Halt zu machen, brachte ich sie ins Dorf, und jetzt bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich schreibe weiter an meinem Roman, und sie besucht im Homeschooling ihre Unterrichtsstunden in New York.
Eines Tages machte ich ihr vorsichtig das Angebot: Vielleicht gehen wir den ganzen Sommer in Isolation? Sie sah mich an wie einen Verrückten. Ich und ihre Mutter, eine Diplomatin, hatten sie kaum in der New Yorker Wohnung festhalten können, denn sie war schon drauf und dran, zu den „Black lives matter“-Protesten zu laufen, an denen fast alle ihre Schulfreunde teilnahmen. Wir hatten sie festgehalten mit dem Argument, dass sich Diplomatenkinder nicht an Protesten beteiligen dürfen, und mit der Einschüchterung, sie werde ihren Litauen-Flug im Gefängnis verpassen. Und jetzt bot ich ihr einen noch größeren Unsinn an. „Papa, meine Freunde warten auf mich“, gab sie zur Antwort. „Wenn die zwei Wochen der verfluchten Quarantäne vorbei sind, bringst du mich sofort nach Vilnius.“
Mit einem Wort, mein bodenständiges Ich verlebt seine letzten Tage. In der kommenden Theatersaison warten sieben Premieren auf mich – von Moskau bis Barcelona. Das bedeutet Geld und Ruhm, und mein offenes Ich betet darum, dass diese Theatersaison nur ja stattfinden möge.
Doch ich selbst weiß nicht einmal mehr: Will ich das oder will ich es nicht mehr. Ich fühle mich völlig in mir selbst verirrt.
Übersetzung aus dem Litauischen von Cornelius Hell
© Debates on Europe Publiziert am 18. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Marius Ivaškevičius ist einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Litauens, Journalist, Prosa- und Drehbuchautor, Dramatiker und Regisseur. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und seine Theaterstücke wurden u. a. in Litauen, Russland, Deutschland, Italien, Frankreich und Neuseeland inszeniert.
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Belgrad: Herdendemokratie
Dubravka StojanovićDas Coronavirus hat gezeigt, wie verletzbar unsere Freiheiten sind und wie wenig es bedarf, um sie zu verlieren. Regierungen und Bürger haben gleichermaßen dazu beigetragen, die durch Covid-19 verursachten gesellschaftlichen Herausforderungen in eine Manifestation von Autoritarismus und gesellschaftlicher Fragmentierung zu verwandeln, so lautet die Diagnose der serbischen Historikerin Dubravka Stojanovic. Statt Herdenimmunität zu erreichen, haben wir eine Herdendemokratie bekommen.
Die medizinische Forschung kämpft darum, alle Geheimnisse und Wirkprinzipien des Coronavirus aufzudecken. Das Coronavirus hingegen hat die Geheimnisse und Wirkprinzipien vieler Regime vollständig enthüllt. Es wirkte wie eine Art von blow up, in dem all das hervortrat, was wir schon lange vor Augen hatten, aber nicht sehen wollten. »Der unsichtbare Feind« hat die politischen Verhältnisse sichtbar gemacht. Als allererstes hat er vorgeführt, wie wir mit Freiheiten umgehen, wenn eine Krise auftritt, und wie schnell die Freiheit zum Ballast wird, wenn wir uns in Bedrängnis sehen.
Die Pandemie hat gezeigt, wie nah sich scheinbar weit voneinander entfernte Regime stehen, und zwar genau die, deren propagiertes Selbstbild auf ihrer Einzigartigkeit und Einmaligkeit gründet. Von Xi Jinping und Wladimir Putin über Viktor Orbán und Aleksandar Vučić bis hin zu Boris Johnson, Donald Trump und Jair Bolsonaro waren die ersten Reaktionen auf das Virus sehr ähnlich – zunächst verschwiegen sie alle den Ernst der Lage, dann verlachten sie das Virus mit den Worten, gerade »uns« könne es doch überhaupt nichts anhaben, denn »wir« würden andere Maßnahmen ergreifen als der Rest der Welt. Als dann die rasch ansteigende
Sterblichkeitsrate ihre vormals unerschütterliche Haltung ins Wanken brachte, begannen einige von ihnen, ganz besonders radikale Maßnahmen zu verordnen – wohl auch, um ihre Einzigartigkeit zu wahren. Nun bot ihnen die Pandemie eine willkommene Gelegenheit, den Bürgern die Hände zu binden und ihnen den Mund zu verbieten. Ihre strahlenden Gesichter auf Pressekonferenzen zeugten davon, dass für sie eine gute Zeit angebrochen war und sie mit Wonne ihre Launen zum System erhoben, kurz gesagt: sich selbst alle Freiheiten gaben. In dieser Art Wettbewerbsdisziplin war es Viktor Orbán, der sehr viel Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit erregte, während der Herrscher meines Landes, Aleksandar Vučić, unter dem Radar geblieben zu sein scheint.
In den ersten Tagen der Pandemie stand Vučić lachend hinter Ärzten, die behaupteten, es handele sich um »das albernste Virus der Welt, das nur auf Facebook existiert«, und die serbische Frauen dazu aufriefen, zum Shoppen nach Mailand zu fahren, da im Lockdown die Schuhe sicher viel billiger seien. Doch dann führte Vučić eine Reihe von Maßnahmen ein, wie es sie in keinem anderen Land gab. Den Ausnahmezustand rief er im Alleingang aus, ohne das Parlament einzubeziehen und damit im Widerspruch zur Verfassung. Auf den Straßen waren nun schwer bewaffnete Soldaten zu sehen. Für Menschen über 65 galt ein vollständiges Ausgehverbot. Es wurde eine tägliche Sperrstunde von 12 Stunden eingeführt (von 17 Uhr bis 5 Uhr). An den Wochenenden herrschte eine totale Ausgangssperre und zu Ostern erreichte dieses absolute Verbot, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, mit einer Dauer von 84 Stunden seinen Rekord. Die Arbeit des Parlaments wurde ausgesetzt. Eine Journalistin, die über die schlimmen Zustände in den Krankenhäusern schrieb, wurde verhaftet, ebenso wie eine Rock- Sängerin wegen eines unerwünschten Liedes. Die Pressekonferenzen des Krisenstabs wurden schließlich abgesetzt und Fragen zur Pandemie als Verrat deklariert. Mal sagte Vučić, die Pandemie könne uns nichts anhaben und wir könnten uns durch das Trinken von Sliwowitz davor schützen, ein andermal wiederum, es würden so viele von uns sterben, dass kein Friedhof groß genug wäre. Die radikalen Maßnahmen änderten sich fast jeden Tag, Rechte wurden verliehen und wieder außer Kraft gesetzt. Regierungsnahe Boulevardblätter verbreiteten bereitwillig Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, die all dem, was der Krisenstab mitgeteilt hatte, widersprachen. Alles wurde darangesetzt, die Bürger völlig zu verunsichern, um die Sehnsucht nach einem Anführer zu wecken, der mit harter Hand die Geschicke steuert.
Dieses Vorgehen der Regierung kam nicht überraschend. Wirklich aufschlussreich ist jedoch, wie die Bevölkerung mit ihren Freiheiten umgegangen ist. In einem Großteil der Länder sind die Zustimmungsraten zu den Maßnahmen der Regierungen angestiegen. Dies gilt für das Rating jener, die vernünftige und effiziente Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung eingeführt haben, es gilt aber ebenso auch für jene, die die Gelegenheit missbraucht und die Freiheiten der Bürger außer Kraft gesetzt haben, während sie zur gleichen Zeit mit Rekordzahlen von Erkrankten und Toten konfrontiert waren – wie beispielsweise in Serbien, das die strengsten Sicherheitsmaßnahmen in der gesamten Region eingeführt hatte, zugleich aber mehr als doppelt so viele Infektionsfälle aufwies wie die anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien. Die Menschen scharten sich um ihre Anführer und überließen ihre Freiheiten jenen, die mehr mit ihnen anzufangen wussten als sie selbst. Die Gemeinschaft rottete sich zusammen, als ob sie einem Instinkt folgte, und die Oppositionsparteien, jedenfalls in Serbien, vergaßen ihre Pflicht
und Schuldigkeit gegenüber den Bürgern und erklärten, jetzt sei nicht der richtige Moment, um von Politik zu reden.
Sehr schnell passten viele Bürger ihr Verhalten den außergewöhnlichen Umständen an. Vielen kamen die neuen Verhältnisse sehr gelegen, um das staatliche Gewaltmonopol in die eigenen Hände zu nehmen. Sobald sich vor den Geschäften Schlangen bildeten, gab es selbsternannte Kapos, die ihre frisch errungene Macht lautstark durch Brüllen, Befehle und Einschüchterungen demonstrierten. Nicht der Ordnung wegen, sondern aus purer Lust. Selbst ernannt haben sich auch diejenigen Aufseher, die mit dem Finger auf Menschen über 65 zeigten, sie aus den Geschäften hinauswarfen und nach Hause schickten. Die Polizei berichtete in ihren Protokollen, dass fast alle Anzeigen gegen über 65-Jährige wegen Verstößen gegen die Ausgehverbote von deren Nachbarn erstattet wurden. Klingt das bekannt?
Seite an Seite mit diesem alltäglichen Trottoirfaschismus konnte man auch eine scheinbar völlig entgegengesetzte Erscheinung beobachten. Kehren wir auf die globale Ebene zurück. Unmittelbar nach der Lockerung der Maßnahmen kam es vielerorts zu einem nahezu ausgelassenen Verhalten der Bürger. Sie tummelten sich in Cafés, Parks und an Stränden, als sei die Gefahr überwunden und könnte jetzt auch nicht mehr wiederkehren. Bei Regelverstößen auf geheimen Partys wurden sowohl bosnische Politiker als auch deutsche Polizisten erwischt, die Bürger Griechenlands übervölkerten die gerade erst eröffneten Strände. Sogar die schwedische Regierung war vom verantwortungslosen Verhalten der Bürger überrascht, die sorglos in die Cafés strömten, weshalb sie gezwungen war, Teile ihrer auf Vertrauen basierenden Politik aufzugeben.
Es kommt Ihnen vielleicht so vor, als ob ich hier über ganz unzusammenhängende Erscheinungen schreibe? Das glaube ich nicht. Im Gegenteil. Ich glaube, dass genau das die verschiedenen Gesichter dessen sind, was wir illiberale Demokratien nennen. Diese Regime sind in der Tat verschieden, aber die Art und Weise, wie sie Freiheiten handhaben, ist ihnen gemein. Und just in diesem Punkt treffen sich Regierung und Bürger. Die Machtdistribution von oben nach unten verlief mit hoher Geschwindigkeit. Die Außerkraftsetzung der institutionellen Ordnung wurde von den Bürgern begrüßt, als Befreiung von der eigenen Verantwortung. Die Nichtachtung des Gesetzes seitens der Regierung verstanden sie als Wink, dass nun alle Fesseln gefallen sind. Nachdem ihnen die bürgerlichen Rechte weitgehend genommen worden waren, ergriffen viele jede Gelegenheit, mit den ihnen verbliebenen Freiheiten zu machen, was auch immer sie wollten. Das Aussetzen aller Regeln seitens der Regierung nutzten die Bürger so als einen Freibrief, jetzt von aller Verantwortung füreinander entbunden zu sein. Beide Seiten nahmen sich von der Freiheit das, was sie gerade gebrauchen konnten – so lange, bis sie auch daran das Interesse verloren. Sie benannten den Feind (China, Soros, Juden, Migranten, 5G, Bill Gates…), der schuld an der Seuche war, um dann mit aller Macht in einen Rachefeldzug zu ziehen. Sie beriefen sich auf die Wissenschaft, wenn es ihnen in den Kram passte, und verlachten sie, wenn ihre Ergebnisse ungelegen kamen. Sie zerrütteten jede Autorität, stellten alles in Frage, produzierten und verbreiteten den totalen Verdacht, um Vertrauen, Gemeinschaft und Solidarität zu vernichten. Indem die Bürger sich auf dieses Spiel einließen, trugen auch sie zur Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnungen bei, zur Herstellung verängstigter und unsicherer
Individuen, die sich nach jemandem sehnten, der mit der Faust auf den Tisch haut. Corona hat gezeigt, wie brüchig die Freiheiten sind und wie wenig es bedarf, damit sie verlorengehen. Zur allgemeinen Zufriedenheit.
Wir haben keine Herdenimmunität erreicht, stattdessen aber eine Herdendemokratie. Wie es scheint, müssen wir noch einmal von vorn anfangen.
Übersetzung aus dem Serbischen von Elvira Veselinović
© Debates on Europe Publiziert am 11. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Dubravka Stojanović: Serbische Historikerin und Professorin an der Universität Belgrad. Sie forscht zu den Themen: Demokratie in Serbien und der Balkanregion, Geschichtsnarrative in Schulbüchern, Sozialgeschichte, Modernisierungsprozesse und die Geschichte der Frauen in Serbien. Sie ist Vizepräsidentin des Ausschusses für Geschichtserziehung und Beraterin der Vereinten Nationen, die sich mit Fragen der Geschichte, des Gedächtnisses und des Missbrauchs der Geschichte in der Bildung befasst.
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Ungarn: Die Krise der Menschenwürde
Anna LengyelDie Würde des Menschen ist im Zuge der Corona-Krise geopfert worden, schreibt Anna Lengyel. Und solange Viktor Orbán an der Macht bleibt, wird diese Krise andauern, selbst nachdem das Virus längst verschwunden ist.
Die letzte große Demonstration in Budapest fand am 23. Februar statt, bevor die ersten Lockdown- Maßnahmen in Ungarn ergriffen wurden. Es war eine Kundgebung für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung, eigentlich aber ging es um die Menschenwürde. In den darauffolgenden Monaten, die wir im Schatten der Covid-19-Pandemie verbracht haben, hat sich diese Würde als das wohlfeilste aller Güter in Viktor Orbáns Regiebuch für den Ausnahmezustand erwiesen.
Im September 2019 hatte das Berufungsgericht in Debrecen sein Urteil gefällt: die andauernde ethnische Segregation von Roma-Kindern in der ländlichen Kleinstadt Gyöngyöspata habe deren Recht auf Gleichberechtigung verletzt und ihnen das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf Bildung vorenthalten. Der bahnbrechende Beschluss verschaffte 60 Kindern einen Anspruch auf finanzielle Entschädigung in Höhe von 99 Millionen Forint (284 033 Euro). Premierminister Orbán tat seine Unzufriedenheit über das Urteil ohne zu zögern kund: “Würde ich in Gyöngyöspata leben, würde ich mich schon fragen, warum die Mitglieder einer dominanten ethnischen Gruppe aus derselben Gemeinde eine erhebliche Summe ohne jegliche Arbeit bekommen, während ich mich hier den ganzen Tag abrackere.”
Am Vorabend der Ausgangsbeschränkungen in Ungarn hatte diese Aussage des Premiers viele Menschen zu Protesten auf die Straßen getrieben. Die Covid-19-Pandemie hat dann gezeigt, dass der ungarische Premier selbst in der dadurch ausgelösten Finanzkrise von historischem Ausmaß Steuergelder umleitet, um neue Fußballstadien zu finanzieren und Großfirmen von Familienmitgliedern und Kumpanen zu retten, anstatt Kleinrentnern zu helfen, von denen viele weniger als 200 Euro im Monat bekommen – bei steigenden Preisen. Was jegliche Form von Sozialhilfe anbelangt, hat Orbán seine Überzeugung wiederholt, dass niemand ohne Arbeit Geld erhalten solle. In den letzten drei Krisenmonaten hat die Regierung KleinunternehmerInnen kaum oder gar keine Hilfe angeboten, ebenso den in der Hotel- und Gastronomiebranche Tätigen, wie auch TheatermacherInnen und anderen Kulturschaffenden.
Die ersten beiden Fälle des neuen Corona-Virus in Ungarn wurden am 4. März diagnostiziert. Orbán selbst hat als erster auf Facebook darüber berichtet. Vom ersten Tag an hat er deutlich gemacht, dass er keinen Respekt vor ExpertInnen hat, dass Entscheidungen von ihm allein getroffen werden und dass er die Pandemie als Vorwand zu nutzen gedenkt, weitere Macht in seinen Händen zu konzentrieren.
Eines der wichtigsten Instrumente, um eine Epidemie zu bewältigen, ist der freie Zugang zu objektiver, aktueller, von ExpertInnen bereitgestellter Information. In Ungarn sind jedoch von Anfang an wichtige Informationen verfälscht oder der Öffentlichkeit vorenthalten worden. Zunächst gab es keine Informationen über die Opfer. Dann veröffentlichte die Regierung – als Reaktion auf einen öffentlichen Aufschrei – eine Liste, auf der die Toten und ihre sensiblen medizinischen Daten leicht zu identifizieren waren. So wusste beispielsweise die ganze Welt bereits 24 Stunden nach dem Tod des 37-jährigen stellvertretenden britischen Botschafters in Ungarn, dass er Alkoholiker war. Angeblich.
Bald schon war das Narrativ über die Todesopfer etabliert: “alte, unter chronischen Krankheiten leidende Patienten”. Bis heute gewinnt man aus den Nachrichten den Eindruck, in Ungarn müsse niemand an Covid-19 sterben, es sei denn, er sei uralt und ohnehin schon todkrank. In manchen Fällen haben Angehörige diese angeblichen Vorerkrankungen bestritten, aber es gibt keine Möglichkeit die Informationen zu prüfen, da den Krankenhäusern untersagt ist, jegliche Daten herauszugeben.
Trotz der Tatsache, dass immer noch 20% der ungarischen Presse relativ frei ist, haben wir jenseits dessen, was uns der sogenannte Operative Stab mitteilt, sehr wenig Informationen. Manche der uns bekannten Fakten allerdings bringen das Versagen der Regierung zum Vorschein, wie das Beispiel von hunderten Beatmungsgeräten, die auf zahlreiche Intensivstationen geliefert worden waren. Diese Maschinen sind eigentlich für den heimischen Gebrauch für Menschen mit Schlafstörungen bestimmt. Sie hätten das Leben von Corona-PatientInnen de facto gefährdet selbst wenn die Gebrauchsanweisungen nicht nur auf Chinesisch zur Verfügung gestanden hätten. Gott sei Dank sind– selbst in einem Gesundheitssystem, das schon vor der Pandemie am Rande des Kollapses stand – in ungarischen Krankenhäusern hochkompetente und gewissenhafte ÄrztInnen und PflegerInnen beschäftigt, und deshalb wurden die Geräte von niemandem verwendet.
Orbán indes scheint Regierungshandeln ausschließlich wie eine Befehlskette zu verstehen, in der seine Untergebenen ihm blind folgen. Als Miklós Kásler, ein Onkologie-Professor, ernannt wurde, einem Ministerium vorzustehen, das für Kultur, Bildung, Sport, Sozial- und Berufspolitik sowie das Gesundheitswesen zuständig ist, war schnell klar, dass ihm jegliche Kompetenz in allen anderen Gebieten seines Aufgabenbereichs fehlte. Der eigentliche Schock kam aber immer dann, wenn er sich zu seinem eigenen Fachgebiet äußerte, zum Beispiel mit der Behauptung, dass 70 bis 80% aller tödlicher Krankheiten vermeidbar wären, wenn nur die Zehn Gebote befolgt würden.
Was ihn zur idealen Wahl für diese Regierung machte, war seine Bereitschaft, Befehlen blind zu folgen. Als man ihm befahl, für einen potentiellen Corona-Ausbruch in der Größenordnung des italienischen Infektionsgeschehens 60% aller ungarischen Krankenhausbetten – insgesamt 36 000 – mit sofortiger Wirkung zur Verfügung stellen zu lassen, hat er keine Sekunde gezögert. Rasch haben daraufhin ExpertInnen erklärt, dass es kein Szenario gebe, nach dem mehr als 10 000 Betten nötig wären. Aber ihre Worte verhallten ungehört. Somit mussten über Ostern sowohl dauerpflegebedürftige PatientInnen als auch PalliativpatientInnen oder etwa ein Mann mit frisch amputierten Beinen und zahlreiche andere Kranke innerhalb von 24 Stunden ihre Spitalbetten räumen. Eine Krankenschwester meldete sich freiwillig, die zehn akutesten Fälle ehrenamtlich zu betreuen. Zwei Wochen später berichtete sie, dass neun ihrer zehn Patienten gestorben waren. Ein angesehener Krankenhausdirektor weigerte sich, dem Befehl Folge zu leisten und wurde unverzüglich entlassen, wie auch ein herausragender Manager, dem mit Hilfe einer falschen Beschuldigung gekündigt wurde. All dies auf dem Höhepunkt der Corona-Krise.
Nun wurde selbst in einer Semidiktatur offensichtlich, dass der Multiminister Kásler jämmerlich versagt hatte. Er musste gehen. Der Kandidat, der zunächst als Nachfolger vorgesehen war, war sogar allgemein bekannt. Es war der Thronfolger, der daraufhin jedoch ankündigte, er wolle lieber weiter als Arzt praktizieren. Da Orbán offenbar keine anderen Namen anzubieten hatte, gab er bekannt, dass sein Innenminister und alter Kamerad Sándor Pintér alle Krankenhäuser und deren Verträge mit nicht-staatlichen Dienstleistungsbetrieben durchleuchten werde. Fachleute warnten, dass das daraus folgende bürokratische Prozedere zu weiteren Todesfällen führen werde.
Mittlerweile wird das von Orbán im März im Parlament durchgepaukte Ermächtigungsgesetz, das ihm unbefristete Befugnisse erteilt und ihm zugesteht per Dekret zu regieren, dafür genutzt, eine Reihe neuer Gesetze zu verabschieden, die nichts mit der Pandemie zu tun haben, dafür aber Menschen ihre Würde rauben. Orbáns Regierung hat die Ratifizierung der Istanbul Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen abgelehnt; er hat transsexuellen Menschen einen schweren Schlag versetzt durch das Verbot der nachträglichen Änderung des bei der Geburt eingetragenen biologischen Geschlechts; er hat 20 000 Beschäftigten in Museen, Bibliotheken, Archiven und öffentlichen Kulturinstitutionen ihren Status als Angestellte im Öffentlichen Dienst aberkannt und sie dadurch einer möglichen Entlassung schutzlos ausgesetzt. Ein neues “Notstandsgesetz” wird die ungarische Hauptstadt, der Gergely Karácsony als Oberbürgermeister der Opposition vorsteht, in den Bankrott treiben.
Die wahren HeldInnen der Pandemie, die ArbeiterInnen in Heil- und Pflegeberufen haben keinerlei wahrhaftige Anerkennung oder substantielle finanzielle Abgeltung erhalten. Orbán hat seine Prioritäten klar definiert: die ersten Helden der Pandemie seien Priester, danach kämen – der Reihe nach – Staatsmänner, Polizeibeamte und Katastrophen-Einsatzkräfte. Ärzte kommen erst auf Platz fünf. Bis auf einen. Denn keiner erhält mehr Lob vom ungarischen Premier als Miklós Kásler für “seine historischen Verdienste”.
Die Würde des Menschen ist im Zuge der Corona-Krise geopfert worden. Und solange Orbán an der Macht bleibt, wird diese Krise andauern, selbst nachdem das Virus längst verschwunden ist.
© Debates on Europe Publiziert am 11. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Anna Lengyel war eine preisgekrönte Dramaturgin, Übersetzerin, Regisseurin und die Gründerin des einzigen ungarischen Dokumentartheaters PanoDrama in Budapest.
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Nordirland: in Belfast stellt der Virus politische Allianzen in Frage
Jan CarsonIn Belfast waren die Erfahrungen der Menschen mit dem Coronavirus eher der Situation in Irland vergleichbar als den englischen Verhältnissen, beispielsweise in London. Trotzdem war Nordirland den gleichen Regelungen ausgesetzt, die im gesamten United Kingdom galten. Wenn das normale Leben zurückkehrt, werden sich die in dieser Krisenzeit gelernten Lektionen an der Wahlurne auswirken, schreibt Jan Carson.
Kürzlich bekam ich eine Email von einer Freundin aus Kontinentaleuropa. Sie sei froh zu hören, dass Irland den Lockdown hinter sich habe. Wieder einmal musste ich ihr erklären, dass ich eigentlich keine Irin bin. “Es ist kompliziert”, schrieb ich. Das heißt auf gut Nordirisch soviel wie: “setz dich hin, es dauert eine Weile, das zu erklären”. Obwohl Belfast, wo ich seit 20 Jahren lebe, in Nordirland liegt, also auf der irischen Insel, durch die eine momentan unauffällige Grenze zur Republik Irland verläuft, obwohl ich neben einem deutlich abgenutzteren britischen Pass einen irischen Pass besitze, freilich, obwohl meine Verlegerin Irin ist und mein letzter Roman The Fire Starters den Literaturpreis der EU für Irland erhielt, bin ich formell keine Irin. Oder doch? In Belfast hängt es davon ab, wen man fragt und an welchem Tag man diese Frage stellt.
In der Covid-19-Krise haben viele Nordiren sich gewünscht, sie wären Iren. Das ist ein kühner Anspruch für jemanden, der in East Belfast wohnt, einem überwiegend protestantischen, historisch der Union mit dem United Kingdom (UK) zuneigenden Stadtteil. Während die Regierung in Westminster einen wirren und oft zerstrittenen Eindruck machte, uneinig darüber war, wann Schulen geschlossen und geöffnet werden
sollten, keine ordentliche Versorgung von Krankenhäusern hinbekam und Probleme hatte, die Folgen für die Wirtschaft anzugehen, steuerte in Dublin, hundert Meilen südlich von uns, der irische Taoiseach oder Premierminister Leo Varadkar sein Land durch die Pandemie, mit Weisheit, Mitgefühl und – vielleicht am wichtigsten – mit einigem Erfolg. Wir im Norden konnten da nur neidisch zuschauen. Es gab Zeiten, in denen wir uns nicht nur aus geographischen Gründen Dublin näher fühlten als London.
Obwohl man über die Erstellung von Statistiken kontrovers diskutiert, ist klar, dass die Pandemie das United Kingdom besonders hart getroffen hat. Im Vergleich zu ähnlichen Nationalstaaten sind hier die Todeszahlen und die Infektionsrate katastrophal hoch gewesen. Aber obwohl Nordirland zum UK gehört, hatten unsere Erfahrungen mit Covid-19 mehr gemein mit denen in der Republik Irland als in den Nationen des Vereinigten Königreichs. Hier war die Stimmung ähnlich ernst, aber ruhig, und die Wirkung des Virus, wiewohl tragisch, weniger verheerend als anfangs vorhergesagt.
Bis vor kurzem war mir meine britische Identität sehr bewusst, aber in Belfast zu sitzen und die täglichen Verlautbarungen aus Downing Street zu sehen, war eine zunehmend befremdliche Erfahrung. Mir kommen Zweifel, nicht nur an Boris Johnsons Führungsqualitäten, seinem Umgang mit der Pandemie, seiner törichten Betonung einer Herdenimmunität zu Beginn, seiner Unfähigkeit, für ausreichend Schutzausrüstung zu sorgen oder auch nur die ständig steigenden Todeszahlen richtig anzuerkennen. Mich beschleicht zudem der Verdacht, dass die gegenwärtige Tory Regierung (und wohl auch die meisten ihrer Vorgänger) weder viel von Nordirland versteht, noch sich besonders dafür interessiert.
Dieses Gefühl ist nicht neu. Mein Vertrauen in die britische Regierung war schon lange vor Covid-19 geschwunden. Da war vor ein paar Monaten Johnsons Hinauswurf von Julian Smith, dem Minister für Nordirland. In dessen kurzer Amtszeit war, nach einer dreijährigen Unterbrechung, die Assembly, das nordirische Parlament, wieder zusammengetreten. Smith wurde von allen Teilen der Bevölkerung respektiert (keine kleine Leistung in Belfast), und er schien die Stadt sogar zu mögen. Ich fand seine Entlassung absolut unlogisch und alles andere als im Interesse Nordirlands. Zuvor musste Nordirland hinnehmen, dass Theresa May unsere Aktien in den Brexit-Verhandlungen verspielte, und natürlich wäre es sträflich, den Brexit selbst unerwähnt zu lassen. Als es dem Rest des Vereinigten Königreichs langsam dämmerte, dass sich David Camerons EU-Referendum massiv auswirken würde auf Nordirland mit seiner realen Grenze zur EU und seiner konfliktreichen Vergangenheit, da fühlten sich viele von uns im Norden wieder einmal missverstanden, vernachlässigt, unwichtig.
In dieser ganzen Zeit dachte ich ernsthaft über die irische Staatsbürgerschaft nach. Dank der Regelungen des Karfreitagsabkommens von 1998 bin ich berechtigt, diese zu beantragen. Meine gefühlte Identität war immer primär an eine Gemeinschaft oder Gemeinde geknüpft, und da die irische Schriftstellergemeinde so offen, warmherzig und inspirierend ist, habe ich schon vor Jahren aufgehört, mich als britische Autorin zu verstehen. Obendrein ist Irland noch nie so aufgeschlossen und liberal gewesen wie heute. Die Volksbefragungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe (2015) und zur Legalisierung von Abtreibungen (2018) haben Gesetzesverfahren im Bereich der Menschenrechte befördert, früher als ähnliche Änderungen im Norden. Die Tatsache, dass mein irischer Pass meinen Status als EU-Bürgerin dauerhaft garantiert, hat mein Denken auch beeinflusst. Die in meinen Augen ruhige, klare politische Führung durch Varadkar und Präsident Michael D. Higgins haben mein Dilemma nur verstärkt. Wenn morgen ein Referendum über die Grenze anstünde, hätte ich riesige Bedenken, für eine langfristige Mitgliedschaft Nordirlands im UK zu stimmen. Umfragen in der letzten Zeit deuten an,
dass ich damit nicht allein bin. Zudem ist es bezeichnend, dass sich in der Coronakrise die Erste Ministerin Nordirlands, Arlene Foster, und die Stormont Assembly wie Schottland und Wales gegen jene Maßnahmen entschieden haben, mit denen der Premierminister den Lockdown lockern will. Nie sind die Risse innerhalb des Vereinigten Königreichs wohl deutlicher zutage getreten.
Aber dies ist nicht die Zeit für ein Grenzreferendum oder andere drastische Entscheidungen. Die Menschen Nordirlands sind vollauf damit beschäftigt, zusammenzuarbeiten, kulturelle und politische Grenzlinien zu überschreiten, um diese Krise zu überleben. In Portadown haben wir erlebt, wie Loyalisten die Absage ihrer traditionellen Freudenfeuer am 11. Juli friedlich hingenommen und ihr Holz dafür benutzt haben, gigantische Skulpturen zugunsten des nationalen Gesundheitsdiensts NHS zu errichten. In einer Gemeinde außerhalb von Derry haben protestantische und katholische Kirchen ihre Ressourcen zusammengelegt, um Einwohnern, die mit Covid-19 zu kämpfen haben, praktische Unterstützung anzubieten. Meine eigene Arbeit mit älteren Damen aus der Falls Road und der Shankhill Road, einer berüchtigten, konfessionell gespaltenen und noch immer von einer “Friedensmauer” durchtrennten Gegend Belfasts, musste ins Internet verlagert werden, bemüht sich durch das Erzählen von Geschichten aber weiter um Eintracht. In mancher Hinsicht hat die Pandemie unsere beiden Bevölkerungsgruppen angenähert.
Auch Lokalpolitiker sind in ihrer Reaktion auf die Krise einigermaßen einträchtig vorgegangen. Es ist ermutigend zu sehen, wie Abgeordnete der nordirischen Assembly politische Differenzen im Interesse des Gemeinwohls überwinden. Dennoch sind auch hier, während die Wochen ins Land gingen, erste Risse zutage getreten. Man war sich uneinig, wann die Kirchen wieder öffnen sollten, und die Democratic Unionist Party (DUP) und Sinn Fein beziehen wieder ihre traditionell gegensätzlichen Positionen. Kaum verwunderlich, dass der Vorschlag der unionistischen Politiker, sich Hilfe bei der britischen Armee zu holen, bei den irischen Nationalisten extrem unpopulär ist. Die fundamentalen Probleme Nordirlands sind nicht verschwunden. Die Pandemie hat das fehlende Vertrauen der Öffentlichkeit in die politische Führung auf lokaler und regierungsamtlicher Ebene deutlich gemacht. Wenn das normale Leben, wie auch immer es aussehen wird, zurückkehrt, werden sich die in dieser Krisenzeit gelernten Lektionen zwangsläufig an der Wahlurne auswirken. Das muss nicht schlecht sein.
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Göske
© Debates on Europe Publiziert am 4. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Jan Carson ist Schriftstellerin und engagiert sich als Organisatorin in lokalen Kultureinrichtungen Belfasts. Ihr jüngster Roman, The Fire Starters, erhielt den Literaturpreis der EU für Irland und steht auf der Shortlist des Dalkey Novel Prize. Während des Corona Lockdowns hat sie das viel beachtete Postcard Story Projekt durchgeführt.
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Belarus: Leben und Hoffen in der Pandemie
Iryna VidanavaIn Minsk veranstaltete Präsident Lukashenka die traditionelle Siegesparade am 9. Mai, als ob es das Virus nicht gebe. Obwohl das Regime die Bürger immer noch zur Teilnahme an derartigen Paraden zwingen kann, so hat es doch die Kontrolle über den digitalen Raum verloren, in dem sich vor allem Protest zu formieren beginnt. In Belarus ist die autoritäre Methode offenbar nicht die Lösung, meint Iryna Vidanava.
Ein grauer, kalter Regentag. Mich friert in meinem leichten Sommerkleid, während wir darauf warten, bis wir dran sind mit unserem Tanz, auf der Parade zum Ersten Mai in Minsk. Als wir im Walzerschritt an der Tribüne vorbeitanzen, auf der die Obersten des Staates sich drängen, fällt mir auf, dass sie alle gut einpackt sind in Mänteln, Handschuhen und Hüten. Am Ende des riesigen Platzes wartet meine Großmutter auf mich. Meist lächelt sie, aber heute sieht sie besorgt aus, als sie mich in eine warme Jacke hüllt. Sobald wir zuhause sind, drängt sie mich in die Dusche, seift mich ein und schrubbt mich kräftig ab. Es ist der 1. Mai 1986, fünf Tage nach der Explosion im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Noch immer gibt es keine offiziellen Nachrichten über das Disaster, und die Regierung vertuscht die Wahrheit, aber alle flüstern, dass etwas Schreckliches passiert ist.
Diese Kindheitserinnerung überfiel mich, als ich die surrealen Bilder von der diesjährigen Siegesparade am 9. Mai sah, die trotz der Coronavirus-Pandemie abgehalten wurde. Umringt von alten Veteranen – keiner von ihnen mit Maske – ließ der belarussische Dauerpräsident Lukaschenka in seiner Armeeuniform stolz Hunderte von Soldaten und Studenten an einer Menschenmenge mitten in Minsk vorbeimarschieren. In seiner Ansprache tönte er: “Wir hatten keine andere Wahl, und hätten wir eine gehabt, wir hätten es genau so gemacht.” Wir schuldeten unser Leben, behauptete er, all denen, die im Krieg starben.
Die Parade und Lukaschenkas Rede haben weithin Empörung ausgelöst. Anders als 1986 sind die Belarussen heute über die Gefahr und das Ausmaß der Corona-Krise in Belarus und anderswo dank Internet und Smartphones gut informiert. Die öffentliche Meinung war: Unsere Großeltern, die für uns litten, würden nicht wollen, dass wir an einem Virus sterben, dessen Verbreitung von einer Parade befördert wurde.
Noch immer kann das autoritäre Regime die Bürger dazu zwingen, bei Paraden anwesend zu sein und zu marschieren, aber es hat die Kontrolle über die Informationskanäle verloren. Ganz in der sowjetischen Tradition versuchte der Staat zunächst, die Nachrichten über das Virus im Keim zu ersticken. Aber die Menschen begannen damit, ihre Erfahrungen online zu stellen, und so verbreiteten sich Berichte wie ein Lauffeuer über die sozialen Netzwerke, Messengerdienste und online-Portale. Unabhängige Journalisten veröffentlichten Corona- Geschichten über ganz normale Leute und offenbarten den schlechten Zustand des Gesundheitssystems und die fehlenden Mittel, um Patienten und Personal zu schützen. Indem sie pausenlos Untersuchungen bei den staatlichen Institutionen anstrengten und unangenehme Fragen an Vertreter des Staates richteten, gelang es ihnen, die Informationsblockade der Regierung zu brechen und die zuständigen Stellen zu zwingen, regelmäßige Updates zu veröffentlichen. Dennoch fährt der Staat fort, zu vernebeln, seiner Verantwortung auszuweichen und zu versuchen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Wenn das Staatsfernsehen versichert, die Situation sei unter Kontrolle, wissen die Leute hier nur zu genau, dass die Lage wirklich übel ist. Sie haben von diesem Regime gelernt, dass sie in diesen Zeiten keine andere Wahl haben, als selbst die Initiative zu ergreifen. Und das haben sie getan.
Während Lukaschenka hohle Bestellungen von Schutzausrüstung ankündigte, die niemand besaß – Luftrütteln mit leeren Worten, wie meine Großmutter immer sagte – und Ärzten an vorderster Front die Schuld dafür gab, dass sie sich infiziert hatten, starteten Freiwillige mit Hochdruck eine Crowdfunding-Kampagne, kauften Tausende von Atemschutzmasken mit Filtern und verteilten sie binnen weniger Tage an Krankenhäuser im ganzen Land. Einige der angesagten Restaurants in der Hauptstadt, zu deren Kunden vor allem Hipsters gehörten, stellten um auf kostenlose Mahlzeiten und abgepackte Imbisse für das medizinische Personal. Der Hackerspace Tech Club von Minsk entwarf und fertigte mit 3D-Druckern Plastikvisiere für Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Eine beliebte örtliche Modefirma stellte wiederverwendbare Schutzkleidung her. Ein Tech Startup, das VR-Anzüge entwirft, produzierte Masken. Hunderte privater Unternehmen und Tausende von Bürgern spendeten Geld, um einzelne Opfer und medizinische Versorgungszentren zu unterstützen. Verschiedene Bürgerinitiativen vereinigten sich zu der nationalen Kampagne #BYCOVID19 und sammelten in 45 Tagen 250.000 Dollar – in einem der ärmsten Länder Europas.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat das Regime versucht, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu unterdrücken, durch die Organisation von Scheinwahlen, den Aufbau einer Propagandamaschine, die Kontrolle des privaten Sektors und andauernde Repressionen. Trotzdem erleben wir heute, dass all dies nichts gefruchtet hat. Die bemerkenswerte Reaktion der Bürger auf die Corona-Krise zeigt, dass sich die Zivilgesellschaft in Belarus erhebt, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen. Der sogenannte “starke Staat” ist in Wirklichkeit nur ein Rüpel, der angesichts einer echten Gefahr verwirrt ist und feige. Engagierte und mutige Bürger, die sich und andere so schnell organisiert und mobilisiert haben, noch dazu in so großer Zahl, zeigen sich effektiver als die staatliche Stümperbürokratie. In Belarus ist die autoritäre Methode offenbar nicht die Lösung.
Leider sind arrogante Herrscher selten bereit, Fehler zuzugeben oder zurückzutreten. Im Gegenteil: Sie werden oft nur aggressiver. Statt mitfühlender oder dankbarer Worte hören die Belarussen von unserem Staatsoberhaupt
wütende und bedrohliche Reden. Für die staatlichen Institutionen sind Transparenz und Verantwortlichkeit nach wie vor fremde Begriffe. Das Virus hat die Unfähigkeit der Behörden zu einem zielgenauen und verantwortlichen Handeln offengelegt. Und so hat das Vertrauen der Öffentlichkeit stark gelitten.
Mir scheint, als gäbe es jetzt mehr Widerspruch in der Gesellschaft, und er ist über mehr Bevölkerungsgruppen verteilt als je zuvor. Schon jetzt löste die für August anberaumte Präsidentenwahl Proteste aus. Diese werden von Bloggern angeführt, die versuchen, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen und der Macht die Wahrheit zu sagen. Angehörige des medizinischen Personals, enttäuscht über die Unfähigkeit des Staates, sie zu schützen und unterstützen, haben sich an Demontrationen beteiligt und online erstmals offen ihre Meinung gesagt. Einige wurden verhaftet und haben ihre Jobs verloren.
Das haben wir alles schon zuvor erlebt. Die Polizei löst die Proteste auf und verfolgt Aktivisten, Journalisten und Blogger, sogar wenn diese sich mit dem Virus infiziert haben und schon im Krankenhaus liegen. Und unsere unterwürfigen Gerichte fahren fort, sie zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Aber irgendwie fühlt sich das jetzt anders an.
Momentan konzentrieren sich die Menschen in Belarus darauf, das Virus zu überstehen. Doch obwohl unklar ist, wie das Leben nach der Pandemie aussehen wird, fragen die Leute schon jetzt, ob sie die existierende Staatsordnung für ihre eigene Zukunft beibehalten wollen. Vor drei Jahrzehnten brauchte es die Tragödie von Tschernobyl, um die Menschen so aufzuschrecken, dass sie sich eine andere Zukunft vorstellten und jene Veränderungen einleiteten, die zu einem neuen und unabhängigen Belarus führten. Wie damals werden die Veränderungen auch diesmal nicht schnell und ohne Probleme eintreten. Aber in diesem seltsamen und schwierigen Moment bin ich sehr stolz auf meine Landsleute und voller Hoffnung für die Zukunft meines Landes.
Dieser Text ist dem Leben und Werk von Yuri Zisser gewidmet, einem Pionier der Internetmedien in Belarus, dem Begründer des landesweit größten unabhängigen Portals TUT.by, einem Philanthropen und Renaissancemenschen, der am 17. Mai 2020 gestorben ist.
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Göske
© Debates on Europe Publiziert am 4. Juni 2020
Dieser Artikel wird von Voxeurop auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Iryna Vidanava ist Mitbegründerin von CityDog.by, einem führenden Lifestyle Magazin Belarus, und eine Medienexpertin und Bürgerrechtlerin. In der Zeitschrift Foreign Policy steht sie auf der Liste der “Wichtigsten Dissidenten der Welt”.
Mitwirkende
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Jan Carson
© Jess Lowe
Jan Carson ist Schriftstellerin und engagiert sich in der kulturellen Stadtteilarbeit in Belfast. Ihr Roman The Fire Starters wurde im vergangenen Jahr mit dem Literaturpreis der Europäischen Union für Irland ausgezeichnet und ist nominiert für den Dalkey Novel Prize. Während des Corona-Lockdown setzt sie ihr 2019 begonnenes und weithin beachtetes Projekt der Postcard Stories fort.
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Ivaylo Ditchev
Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia und als Autor an den öffentlichen Debatten in Bulgarien beteiligt. Er arbeitet zu Themen der politischen Kultur sowie der Stadtforschung und der Medienwissenschaft und ist regelmäßiger Kolumnist der Deutschen Welle. 2020 erschien von ihm Културни сцени на политическото [Kulturszenen des Politischen]. Ditchev ist Herausgeber von SeminarBG, einer kulturwissenschaftlichen Online-Zeitschrift.
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Slavenka Drakulić
Slavenka Drakulić ist eine kroatische Journalistin, Romanautorin und Essayistin, deren Werke zum Feminismus, Kommunismus und Postkommunismus in viele Sprachen übersetzt wurden. 2004 erhielt sie den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung. Ihr neues Buch Café Europa Revisited. How to Survive Post-Communism wird im Frühjahr 2021 bei Penguin erscheinen.
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Carl Henrik Fredriksson
Carl Henrik Fredriksson ist Redakteur, Essayist und Übersetzer und lebt in Wien. Er ist Mitbegründer der journalistischen Onlineplattform Eurozine und war bis 2015 deren Chefredakteur und Leiter. Auch war er Chefredakteur des ältesten schwedischen Kulturmagazins, Ord&Bild. Heute ist Fredriksson Programmdirektor der Debates on Europe und Permanent Fellow des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik in Köln.
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Marius Ivaškevičius
Marius Ivaškevičius ist einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Litauens, Journalist, Prosa- und Drehbuchautor, Dramatiker und Regisseur. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Seine Theaterstücke wurden u. a. in Litauen, Russland, Deutschland, Italien, Frankreich und Neuseeland inszeniert, beispielsweise unter der Regie von Kirill Serebrennikov, Oskaras Korshunovas, Rimas Tuminas, Mindaugas Karbauskis, Arpad Shilling und Aleksandar Popovski. Zu seinen Auszeichnungen zählen vier Preise für das beste litauische Stück des Jahres und ein russischer Golden Mask Award für das beste Stück des Jahres 2017.
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Angelina Kariakina
Angelina Kariakina arbeitet als Journalistin in Kiew, Ukraine. Sie war Chefredakteurin von Hromadske und hat über die Maidan-Proteste, die russische Aggression in der Ukraine und Prozesse gegen ukrainische politische Gefangene in Russland berichtet. Sie ist Mitbegründerin des Public Interest Journalism Lab, eines interdisziplinären Projekts, das Best-Practice-Strategien für die journalistische Arbeit im digitalen Zeitalter vermittelt. Derzeit arbeitet Kariakina an einer Reform der Nachrichtenredaktion beim ukrainischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
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Sergei Lebedev
© Tanja Draškić Savić
Sergej Lebedew ist ein russischer Autor, dessen Bücher in 17 Sprachen übersetzt wurden. Er trat in die Fußstapfen seiner Eltern und nahm in jungen Jahren an geologischen Expeditionen in Russlands Fernen Norden und nach Zentralasien teil. Dabei waren die Zielorte zumeist verlassene Gulag-Gebiete, deren Lager seit ihrer Schließung in den 1960er Jahren unbewohnt waren. Seit 2010 hat Lebedew fünf Romane geschrieben, die die verdeckte sowjetische Vergangenheit und die Auswirkungen der stalinistischen Repressionen auf die moderne russische Gesellschaft zum Thema haben. Dabei wird das sowjetische Trauma des Totalitarismus durch die Perspektive einer Familiengeschichte wie in einem Brennglas gebrochen.
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Anna Lengyel
Anna Lengyel war eine preisgekrönte ungarische Dramaturgin, Übersetzerin und Regisseurin. Sie war überdies Gründerin von PanoDrama, Ungarns einzigem Dokumentarischen Theater, das gleichzeitig als unabhängige kreative Produktionsfirma fungiert. Eine ihrer letzten Aktionen zielte darauf ab, Kulturarbeiter während der Corona-Krise zu unterstützen. Unter dem Motto „Ich mache Theater – kann aber auch andere Sachen“ forderte sie dazu auf, sich Können und Talent der Künstler, Theatermacher und Akteure des Kulturbetriebs für andere Sparten zunutze zu machen. Anna Lengyel starb im April 2021.
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Senad Pećanin
Senad Pećanin lebt und arbeitet als Anwalt, Journalist und Herausgeber in Sarajevo. Er ist eines der Gründungsmitglieder des Helsinki Committee for Human Rights in Bosnien und Herzegowina und arbeitet zu Menschenrechten und Demokratisierungsprozessen in Südosteuropa. 1992, während der Belagerung Sarajevos, gründete er das unabhängige Wochenmagazin Dani.
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Dubravka Stojanović
Dubravka Stojanović ist serbische Historikerin und Professorin an der Universität Belgrad. Sie forscht zu den Themen Demokratie in Serbien und der Balkanregion, Geschichtsnarrative in Schulbüchern, Sozialgeschichte, Modernisierungsprozesse und die Geschichte der Frauen in Serbien. Sie ist außerdem Vizepräsidentin des Ausschusses für Geschichtserziehung und Beraterin der Vereinten Nationen, und beschäftigt sich mit Fragen der Geschichte, des Gedächtnisses und des Missbrauchs der Geschichte in der Bildung.
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Adrian Tahourdin
Adrian Tahourdin war lange Zeit Redakteur des Times Literary Supplements (TLS) und war dort bis vor Kurzem für französische und italienische Literatur sowie für die Letters-Sparte zuständig.
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Vessela Tcherneva
Vessela Tcherneva ist Vizedirektorin des European Council on Foreign Relations und Leiterin des ECFR-Büros in Sofia. Ihre Schwerpunktthemen sind die EU-Außenpolitik, der Westbalkan und die Schwarzmeerregion.
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Iryna Vidanava
Iryna Vidanava ist Mitbegründerin und CEO von CityDog.io (vormals CityDog.by), eines der führenden unabhängigen Online-Medien für Minsk, Belarus und Belaruss:innen weltweit. Vidanava ist eine international anerkannte Expertin, Forscherin und Beraterin, außerdem Autorin mehrerer Publikationen zum Thema Medien, Zivilgesellschaft und staatliche Politik in Belarus. Sie ist Vorstandsmitglied des belarussischen Journalistenverbands und des belarussischen Weltverbands “Batskaushczyna”. 2014 stand sie auf der Liste der Top 100 Innovator:innen Mittel- und Osteuropas (NewEurope100.org).
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Lena Wängnerud
Lena Wängnerud ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Göteborg. Sie gilt als eine der führenden europäischen Expertinnen für die Repräsentation von Frauen in der Politik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind repräsentative Demokratie, Gender und Korruption sowie Gender und soziale Themen. Zuletzt sind von ihr Gender and Corruption (hrsg. mit Helena Stensöta, Palgrave 2018) und The Principles of Gender-Sensitive Parliaments (Routledge 2015) erschienen.
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Nicolai von Ondarza
Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die post-Brexit Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Vor kurzem hat er Analysen über das schottische Unabhängigkeitsstreben veröffentlicht sowie über die Mitverantwortung der EU und des Vereinigten Königreichs gegenüber Nordirland.
Thank you
Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen und Projektpartnern, die uns dabei geholfen haben, Debates Digital zu verwirklichen.
Debates Digital Team
CARL HENRIK FREDRIKSSON
Programmdirektor und Moderator der Diskussionen
RADMILA RADOVANOVIĆ
Projektmanagerin (Juni-Oktober 2020)
BARBARA ANDERLIČ
Projektmanagerin
BERISLAV ŽUPARIĆ
Grafik & Schnitt