Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache


Sofia Debate on Europe, 24.–26. Februar 2023

Die Sofia Debate on Europe wird an einem schicksalsschweren Datum der jüngeren europäischen Geschichte eröffnet: genau am ersten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine. Und bereits neun Jahre ist es her, dass die Revolution der Würde auf dem Kiewer Maidan ihren Höhepunkt erreichte und die nicht ganz so geheimnisvollen “kleinen grünen Männchen” auf der Halbinsel Krim auftauchten, was den eigentlichen Beginn des russisch-ukrainischen Krieges bedeutete.

Falls Europa einen weiteren Beleg dafür brauchte, wie kritisch die derzeitige geopolitische Konstellation tatsächlich ist, dann hat es diesen am 10. Februar 2023 bekommen, als die moldauische Premierministerin Natalia Gavrilita ihren Rücktritt ankündigte und das EU-Beitrittsland damit in eine politische Krise stürzte. Auslöser für Gavrilitas Rücktritt waren Nachrichten über einen russischen Plan, die prowestliche Regierung ihres Landes zu stürzen. Seitdem wurde in Chisinau zwar eine neue der EU zugewandte Regierung eingesetzt – die prorussischen Proteste werden gleichwohl von Tag zu Tag stärker.

Mehr als alles andere war dieses Geschehen eine Erinnerung daran, dass obschon der militärische Kriegsverlauf der „Spezialoperation“ nicht Russlands ursprünglichem Plan entspricht, gleichzeitig aber Putins hybride Kriegsführung anderswo in Europa durchaus erfolgreich ist.

Nur wenige Wochen vor den Ereignissen in der Republik Moldau hatte der investigativeJournalist Christo Grozev vor dem Parlament in Sofia erklärt, Russland habe für 2016 einen ähnlichen Staatsstreich in Bulgarien geplant. Diese Pläne, die seinerzeit vom russischen Militärgeheimdienst GRU orchestriert worden seien, konnten zwar rechtzeitig gestoppt werden, aber die brisante Lage Bulgariens – Mitglied der Europäischen Union, aber starkem russischen Einfluss ausgesetzt – bleibt unübersehbar. Dies gilt umso mehr nach dem 24. Februar 2022, als Russland die noch verbliebenen Reste der nach dem Kalten Krieg geschaffenen europäischen Friedensordnung ausgelöscht hat.

Einer der Grundsätze der Debates on Europe ist, sich auf Orte zu konzentrieren, an denen die Idee von Europa keine Selbstverständlichkeit ist, an denen vielmehr das Projekt Europa selbst auf dem Spiel steht. Dies war bereits bei der ersten Veranstaltung 2012 in Budapest der Fall. Und es fand seine Fortsetzung bei den Debatten in Charkiw und Sankt Petersburg, die beide nach der illegalen russischen Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine stattfanden, ebenso in Belfast, kurz vor dem Brexit. Aber noch nie in der Geschichte dieser Reihe stand so viel auf dem Spiel wie jetzt, wo wir in Sofia zusammenkommen.

So gibt es kaum einen besseren Ort als die bulgarische Hauptstadt Sofia, um zu verstehen, vor welchen Herausforderungen Europa heute steht. Hier werden viele der aktuellen Konflikte deutlich sichtbar. Im April finden in Bulgarien zum fünften Mal Parlamentswahlen innerhalb von nur zwei Jahren statt, und auch dieses Mal kann nicht selbstverständlich von einer stabilen Regierungsbildung ausgegangen werden.

Wie der Schriftsteller Georgi Gospodinov feststellte, ist eine polarisierte Gesellschaft wie die bulgarische durch einen fast vollständigen Zusammenbruch der Kommunikation gekennzeichnet. Es fehlt die Sprache für ein gemeinsames Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und Bulgarien ist mit diesem Dilemma auf keinen Fall allein.

Die Sofia Debate on Europe soll daher einen Raum des Austauschs eröffnen, in dem die von Gospodinov so schmerzlich ersehnte Sprache entwickelt werden kann – als das Mittel, um eine grausame, konfliktreiche Realität zu begreifen, Lösungen und ernsthafte Zukunftsperspektiven zu formulieren – und dies nicht nur aus politischer Sicht, sondern auch gesellschaftlich und kulturell.

Ein solches Gespräch, eine solche Debatte über Europa, darf jedoch nie in der Annahme geführt werden, dass alles von einem neutralen Standpunkt aus diskutiert werden kann oder dass alle Meinungen gleichermaßen akzeptabel sind.

Im September 1939, als die totalitären Kräfte Europas auf dem Siegeszug zu sein schienen, saß Thomas Mann in Stockholm und schrieb an einer Rede, die er auf dem bevorstehenden Internationalen PEN-Kongress halten sollte. Der Titel seiner Rede lautete Das Problem der Freiheit. „Wir müssen es wagen, diese großen Worte wieder zu benutzen“, schrieb Mann. Worte wie “Freiheit”, “Wahrheit”, “Recht”. Und wir müssen wieder lernen, sie ohne die skeptische Distanz oder gar Ironie zu gebrauchen, mit der sie jahrzehntelang imprägniert worden sind. Tun wir das nicht, dann überlassen wir das Feld genau jenen Kräften, die das Völkerrecht ignorieren, die Lügen gleichermaßen über Vergangenheit und Gegenwart verbreiten und die der Freiheit ein Ende setzen wollen.

Thomas Mann konnte seine Rede nicht halten. Der PEN-Kongress in Stockholm wurde abgesagt, nachdem Hitler-Deutschland in Polen einmarschiert war. Doch der Text wurde umgehend vom Bermann-Fischer Verlag, damals im schwedischen Exil, veröffentlicht.

Wenn man etwas lernen kann aus Thomas Manns Reaktion auf die prekäre Situation, in der er selbst und die Welt sich damals befunden haben, dann ist es sicher nicht, in übertriebenem Pathos zu schwelgen. Nein, die Lektion besteht darin, auf den Werten und Prinzipien zu bestehen, die diese Worte beinhalten, und zu versuchen, eine angemessene Sprache zur Bewältigung der Krise zu finden.

Die Sofia Debate on Europe bietet die Gelegenheit, genau das zu tun. Es steht viel auf dem Spiel.

Antje Contius, Geschäftsleiterin der S. Fischer Stiftung
Carl Henrik Fredriksson, Programmleiter von Debates on Europe
Dessy Gavrilova, Vorsitzende des European Network of Houses for Debate “Time to Talk”
Ernst Osterkamp, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung